Ein Wintermärchen
Es war einmal, an einem kalten Wintertag. Da streifte ein Hase müde und hungrig durch die verschneiten Felder und Wälder.
Plötzlich sah er eine Gestalt aus Schnee vor sich, einen Schneemann, den Kinder gebaut hatten. "Ja, das ist meine Chance", dachte sich der Hase. "Denn die Menschen verwenden für Ihre Figuren meist Karotten für die Nase! Mjammy!" Während sich das Häschen dem Schneemann näherte, sprach er in Reimen:
"Hallo Schneemann, ich bin ein hungriger Hase,
drum lass mich fressen, Deine Nase.
Ich bin flink und mach nicht schlapp,
beiß‘ Dir gleich die Nase ab."
"Nein! Tu das nicht! Dann sind die Kinder nämlich traurig!" Rief eine hohe Stimme hinter ihm. Der Hase erschrak und drehte sich um. "Wer bist Du?" Fragte er. Zu seinem Erstaunen sah er einen Zwerg hinter sich, der sagte mit sanfter Stimme: "Liebes Häschen, hab keine Angst. Ich bin Winterbart, ein Zwerg, der Tieren im Winter hilft, etwas Essbares zu finden." Der Hase betrachtete zuerst still den Zwerg. Er hatte einen Bart, so weiß wie Schnee. An der Spitze seiner Zipfelmütze hing ein kleiner Eiszapfen. "Soso", sagte nun der Hase. "Das ist widersprüchlich, lieber Winterbart. Einerseits willst Du Tieren helfen, etwas zum Fressen zu finden, und andererseits willst Du mich davon abhalten, diese Karottennase zu fressen! "Hör zu mein Freund: Einerseits sagte ich Dir bereits, dass die Kinder bestimmt sehr traurig sein würden, wenn dem Schneemann auf einmal die Nase fehlt, und andererseits weiß ich einen Ort, wo es für Dich Fressen in Hülle und Fülle gibt. Und diese Futterquelle ist gar nicht so weit entfernt von hier." Der Hase spitzte seine Löffel nun noch mehr und fragte: "Wo ist es?" "Folge mir!" Erwiderte Winterbart.
Müde trottete der Hase hinter Winterbart her. Da kamen sie in eine Siedlung. Und dann waren sie endlich am Ziel, ein Haus mit 2 Ein- bzw. Ausgängen. Über der einen Türe stand in großen Buchstaben:
JIMMY'S BAUERN- UND GEMÜSELADEN"
Am Grundstück befanden sich außerdem noch ein großer Gemüsegarten, ein Stall und ein Schuppen.
"Und wie geht‘s jetzt weiter?" Fragte der Hase, halb erfreut, halb erschöpft. Winterbart wollte gerade antworten, da ging die andere Türe, die zu den privaten Räumlichkeiten des Bauern führte, auf und ein Mädchen trat heraus. "Emily, komm zurück, ohne Mütze gehst Du mir nicht raus!" Rief mahnend eine Frauenstimme. "Mami! Mami! schau, ein Hase! Er sieht ganz müde und hungrig aus!" Schnell rannte die Kleine wieder ins Haus. "Folge ihr!" Meinte Winterbart. Der Hase tat, wie ihm geheißen und folgte dem Kind ins Haus.
"Ach, Du armer kleiner! Im Haus kannst Du nicht bleiben. Aber jetzt kriegst Du einmal was zum Fressen." So sprach die Bauersfrau mit dem Hasen. Emily hielt dem Hasen eine Karotte hin. Dieser war sehr gierig! Die Mutter holte weitere Karotten, ging aus dem Haus und deutete Emily, ihr zu folgen. "Nimm den Hasen mit." Befahl sie dem Kind. Der Hase war so müde, dass er sich ohne weiteres von Emily aufheben, und hinaus tragen ließ. Die Mutter war im Schuppen und hatte für den Gast ein Heu Lager zum Ausruhen hergerichtet, und die Karotten danebengelegt. "Hier, setz ihn da ins Heu. Er muss sich jetzt ausruhen und wieder zu Kräften kommen." Meinte die Mutter. Emily ließ den Hasen sanft im Heu nieder und dieser fühlte sich augenblicklich pudelwohl! "Gehen wir, Emily. Er braucht jetzt Ruhe." Mutter und Kind verließen den Schuppen und der Hase dachte nur: "Danke, Winterbart!"
Abends kam Jimmy aus dem Geschäft nach Hause. "Papi! Wir haben einen Gast." Rief Emily ihrem Vater zu. "So? Einen Gast? Und wem? Wo ist er denn, damit ich ihn auch begrüßen kann." "Es ist ein Wintergast", warf die Mutter ein. "Wie? Das versteh ich nicht, Ella." Mutter und Tochter erzählten ihm, wie Emily den Hasen halb verhungert und müde vorfand, und im Schuppen ein Lager für ihn errichtet wurde. Zu dritt gingen sie nun in den Schuppen.
"Hier ist er", flüsterte Emily, als sie in den Schuppen eintraten. Der Hase ruhte friedlich im Heu. Jimmy löste einen Holzbalken aus der Tür des Schuppens, sodass ein Freiraum entstand. "Was soll das bedeuten, Papi?" Wollte Emily wissen. "Ganz einfach", begann der Vater zu erklären: "durch die Lücke in der Tür kann der Mümmelmann aus und eingehen, wie es ihm passt. Du musst bedenken, es ist eigentlich ein Feldhase, also ein Wildtier." "Verstehe. Aber wieso Mümmelmann? Woher weißt Du, dass er männlich ist? Es könnte ja genauso gut eine Mümmelfrau sein." Meinte Emily. Die Eltern mussten lachen. "Da hast Du Recht, mein Schatz!" Sagte Jimmy, und dann gingen sie wieder ins Haus.
Am nächsten Tag kam der Dorf-Tierarzt, um den Hasen zu untersuchen. „Soweit ist mit ihm alles in Ordnung, bzw. ist es eine Sie, ein weiblicher Hase. Die Hasendame braucht jetzt etwas Ruhe und muss mit ausreichend Futter aufgepäppelt werden.“ Meinte der Tierarzt zufrieden zu Ella. „Mami, darf ich ihr einen Namen geben?“ Fragte Emily. „Wird zwar nichts bringen“, meinte die Mutter, „weil sie ein Wildtier ist, aber wenn Du unbedingt willst?“ „Ja, ich weiß auch schon einen: Lilli Löffelfrau.“ Erwiderte Emily und hüpfte auf und ab. Die Mutter schmunzelte und meinte schließlich: „Also so möchte ich nie heißen, Emily.“
Es war Weihnachten. Am Morgen des Heiligen Abends, als Jimmy das Haus verließ, um am Vormittag noch in seinem Gemüseladen zu arbeiten, fand er etwas seltsames vor der Türe des Hauses. Da stand eine Truhe, darauf lag ein Zettel, auf dem stand:
"Lieber Jimmy, liebe Emily und liebe Ella!
Von Herzen danke ich Euch, dass Ihr meine Hasenfreundin über den Winter versorgt. Dies ist ein Geschenk von mir und meinen Zwergenfreunden.
Frohe Weihnachten wünschen Winterbart und seine Freunde."
"Ella! Emily! Kommt mal!" Rief Jimmy. Emily kam zuerst und die Mutter folgte einen Augenblick später. "Seht mal, die Truhe und der Brief! Ich glaub, wir sind im Märchen!" Die Mutter machte große Augen und Emily meinte: "Also stimmt der Traum doch! Ein Zwerg, der Winterbart heißt, war in der Nacht bei mir, im Traum. Beim Frühstück durfte ich Euch noch nichts davon sagen, es sollte eine Überraschung sein." "Weißt Du auch, was in der Truhe drin ist, Emily?" Wollte der Vater wissen. Das Kind schüttelte den Kopf und erwiderte: "Nein, das ist auch für mich noch eine Überraschung."
Die Truhe wurde ins Haus geschoben und dann erst geöffnet. Die Familie staunte nicht schlecht! In der Truhe befanden sich einerseits jede Menge verschiedener Samen von Gemüsepflanzen, die der Bauer und Gemüsehändler im Garten und am Feld anpflanzen konnte, und andererseits jede Menge Gold und Silbermünzen. "Oh!" Hauchte Emily und die Erwachsenen sahen sich an. "Jetzt kann ich das Haus und den Laden im Frühjahr renovieren, und Emily bekommt endlich ein größeres Kinderzimmer." Sagte Jimmy. "Jippie!" Jubelte Emily. "Jetzt muss ich aber erstmal noch arbeiten. Du Ella nimmst Münzen aus der Truhe mit, gehst mit Emily zum Markt im Dorf und kauft noch letzte Sachen für Weihnachten."
Gesagt, getan. Ihre Wege trennten sich. Winterbart, der Zwerg hatte alles genau beobachtet. Er begleitete Mutter und Tochter ins Dorf. Es wurde reichlich eingekauft. Winterbart war es eine Freude mit zu erleben, wie Emily im Dorf kleine Geschenke an die Kinder verteilte. Viele fragten, woher Jimmys Familie nun auf einmal so viel Geld her bekommen hatten. Zu den Erwachsenen wurde gesagt, dass Jimmy und Emily eine Schatztruhe im Wald gefunden hatten. Nur die Kinder, die am Ehesten noch an Zwerge glaubten, wurden in das Geheimnis eingeweiht.
Es waren die schönsten Weihnachten aller Zeiten gewesen. "Schön, dass wir auch mal anderen im Dorf eine Freude machen konnten." Meinte Jimmy. Ella stimmte ihm zu. "Eine alte Dame aus dem Dorf sagte zu mir": "Nicht nur beschenkt werden macht Freude, sondern auch, wenn man selbst etwas verschenkt." Sagte Emily. "Da hat sie Recht." Sagte die Mutter lächelnd. Es waren Weihnachten zum Genießen: Gutes Essen, wunderschöne Deko, Weihnachtslieder singen, und natürlich das ein- oder andere Geschenk. Die zwei größten Geschenke allerdings waren für Emily, einerseits ein Tier aus der Hungersnot gerettet zu haben, und andererseits das Versprechen des Vaters, dass sie im Frühjahr ein größeres Kinderzimmer bekommen würde.
Geschrieben Ende November 2015
(Fortsetzung folgt voraussichtlich im Frühjahr 2016).
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